Themen aus dem AZT:

50 Jahre Sicherheitsgurt

Mit der Verordnung zur Änderung der StVZO vom 20.06.1973, wirksam zum 01.01. 1974, wurde der Einbau des Sicherheitsgurts für alle Pkw-Neuzulassungen Pflicht. Der Gurt an den äußeren Vordersitzen wurde fortan zur Serienausstattung. Für die Anschnallpflicht und Strafbewehrung freilich galt es noch manche Widerstände zu überwinden. Das Allianz Zentrum für Technik half dabei tatkräftig mit. Der Gurt – ein Überzeugungskampf mit Happy End.

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August 2023

 

Der Weg hin zum Gurt als Lebensretter Nr. 1 erweist sich über weite Strecken als filmreif, guter Ausgang garantiert. Denn eine Erfolgsgeschichte wurde der Gurt ohne Zweifel. Nach WHO (UNECE celebrates five decades of safety-belt use that have saved millions of lives) senkt er das Risiko tödlicher Verletzungen auf den Frontsitzen um 50 Prozent und rettete bereits Millionen Leben weltweit. Früh schon wurde auch für Deutschland die verletzungssenkende Wirkung aufgezeigt, wie die Dissertation des Unfallforschers und langjährigen Mitstreiters für Verkehrssicherheit im GDV, Klaus Langwieder, 1975 dokumentiert.

 

1973 – der Gurt erhitzt die Gemüter

Nur helfen Zahlen im Ringen um Vernunft nicht immer weiter. Die Einbaupflicht ist noch keine beschlossene Sache, gerade mal in einigen Fahrzeugmodellen ist der Gurt ein Nice-to-have und die Benutzungspflicht in weiter Ferne – da bricht schon durch die bloße Debatte um das neue Sicherheitsfeature ein Sturm der Entrüstung los. Verletztes Freiheitsgefühl am Steuer wird heute gerne angeführt für diesen Streit. Die Verkehrspsychologie der Bundesanstalt für Straßenwesen, die 1973 die Hintergründe erforscht Schriftenreihe-Verkehrssicherheit-15 (dvr.de) , kommt aber noch zu einem weiteren – und ungleich bemerkenswerteren – Schluss:
 

Wie keine Pkw-Sicherheitsmaßnahme zuvor führt die Aufforderung zum Anschnallen zum Bewusstwerden eigener Verletzlichkeit. Mit dem Gurt wird die Einsicht in die Gefahr sterben zu können, persönlich und physisch präsent, wo 20.000 Tote nur eine abstrakte Zahl bleiben. Zwangsläufig schon reagieren die Menschen mit Abwehr, ob durch Wut oder Spott. Vergessen ist heute aber auch das: 1973 und Folgejahre sind die Zeit der Ölkrise und Fahrverbote. Eben zum erschwinglichen Konsumgut geworden, führt der Konjunktureinbruch laut Statistischem Bundesamt wieder zum Einbruch bei angemeldeten Pkws; die Arbeitslosenzahl vervierfacht sich von 1973 auf 1975 auf erstmals über 1 Million – zu alle dem kommt die Nachrüstpflicht aller Wagen bis Erstzulassung 1970. Die Nerven liegen blank beim Thema Gurt.

 

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Anschnallpflicht und Strafbewehrung

Gut gemeinte Sicherheitskampagnen laufen ins Leere, auf Freiwilligkeit setzen verfehlt sein Ziel. Mit Einführung der Gurtnutzungspflicht 1976 entgleitet die Debatte in Peinlichkeit und Verweigerung. „Selten reagierten die Westdeutschen so hysterisch wie bei der Einführung der Gurtpflicht“, fasst der SPIEGEL in einer historischen Rückschau die damalige Stimmung zusammen Einführung der Gurtpflicht - DER SPIEGEL – und da der Staat auf eine Bußgeldandrohung verzichtet, bleibt auch die Gurtanlegequote unbeeindruckt niedrig. Der Kampf um den Gurt wird ein Kampf um die Strafbewehrung. Ende 1982 nimmt der neue Verkehrsminister Dollinger die kurz zuvor von Verkehrsminister Hauff eingebrachte Verordnung zur Einführung eines Bußgeldes wieder zurück, so Horst Heldmann in der Zeitschrift für Verkehrssicherheit 15 Jahre Strafbewehrung der Gurtanlegepflicht. Rückblick auf einen langen sowie von vielen Schwierigkeiten und großen Enttäuschungen gesäumten Weg (trb.org) in seiner Rückschau als Ministerialbeamter.  

 

Verkehrsminister Werner Dollinger 1983 bei einem Crashtest im AZT

 

„Gurt oder Tod!“, mit diesem Buchtitel rüttelt Max Danner – Leiter des Instituts für Kraftfahrzeugtechnik im Allianz Zentrum für Technik von seiner Gründung 1971 bis 1992 – die Fachwelt und Politik 1983 auf. Noch im gleichen Jahr lädt er Minister Dollinger zu Crashtests ein Crashtest 1982 mit Verkehrsminister Werner Dollinger - YouTube, um ihn von der Wichtigkeit des Gurts zu überzeugen. Danners Einsatz für den Gurt ist leidenschaftlich. Und noch einmal wird das auch die gesamte Debatte, wie die Position des Verkehrsrichters und Gurtgegners Hans Kindermann zeigt. Dieser macht sich zum Wortführer der Mahnung vor nicht hinnehmbaren Verletzungsgefahren durch den Gurt. Die überwiegende Mehrheit der Fachwelt teilt diese Sicht aber nicht. 1984 kommt auch das Bußgeld.

 

               1972/73 Gurt-Kampagne (DVR)                     1983 Buch Max Danner (AZT)

 

Ende gut … 

Heute sind die Gemüter lange beruhigt. Der Griff zum Gurt ist automatisierte Routine, mit der Strafbewehrung erfuhr die Gurtanlegequote einen nachhaltigen Schub BASt - Daten & Fakten kompakt - Gurte, Kindersitze, Helme und Schutzkleidung – 2021. Die Einführung der Gurtanlegepflicht für die Rückbank (1984, strafbewehrt seit 1986, Einbaupflicht seit 1979), der Kindersicherungspflicht (1993) und schließlich des Gurtwarners stehen außer Rede, manch eingeschworener Tipp zur Piepser-Deaktivierung widerlegt das nicht. Automatische Gurtstraffer optimieren heute die Schutzwirkung im Gefahrenfall – und auch das muss nicht das Ende der Technikentwicklung sein.   

 

Das AZT sieht weiteren Ansporn

Das Thema Gurttragen verdient auch weiterhin Beachtung. Die Rückbank ist durch Erwachsene selten belegt, und wenn doch, unterbleibt das Anschnallen gerne mal. Anschnall-Warner sind auch hier eine Lösung. Am Herzen liegt der Allianz der Kinderschutz im Auto – die Pkw-Mitfahrt ist die häufigste Verkehrsbeteiligungsart vor allem verunglückter Kleinkinder. Der AZT Film mit Moderator Willi Weitzel erklärt, wie Kindersichern im Auto geht.

 

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Ein Problem beim Nichtanschnallen ist der Gurt-Verzicht auf kurzen Strecken oder bei Langsamfahrten. Krafteinwirkungen beim Aufprall unter Niedriggeschwindigkeit werden da leicht unterschätzt. Immer häufiger zwingen auch berufliche Umstände zu Kurzstrecken mit häufiger Fahrtunterbrechung. Auch hier gehört das Thema Anschnallen und Ausnahmeregeln diskutiert. Unbeschadet von Beruf oder Fahrtzweck zeigten die Allianz Studien zur Ablenkung, dass der Gurt mitunter erst im Verlauf des Anfahrens angelegt wird – vor allem auf Rangierflächen mit Fußverkehr ist solches Hantieren keine gute Idee.

 

Zurzeit 99 % Gurttragequote und seit Langem kaum darunter. Sagt uns das nicht „Alles Paletti, keine Gefahr, keine Baustelle …“?

 “ Verkehrssicherheit ist immer eine Baustelle, ohne die es aber auch keine Innovation gäbe. Und wir wissen aus eigenen Unfallaktenanalysen, dass bei Fahrzeuginsassen unter den Opfern eben doch noch viele nicht Angeschnallte zu finden sind. Ein Blick auf die amtlichen Unfallzahlen bei unserem Nachbarn Österreich führt uns das vor Augen, jeder dritte getötete Pkw-Insasse war dort vergangenes Jahr unangeschnallt verunglückt. Hier gibt es für die Unfallforschung sicher noch einiges zu tun.“

 

Dr. Christoph Lauterwasser,
Geschäftsführer, Allianz Zentrum für Technik

 

Wenige Menschen machen sich Gedanken über die richtige Passform des Gurts. Erst die korrekte Ausrichtig von Sitz und Gurt an die Körpermaße ermöglicht die optimale Wirkung aller verbauten Schutzmaßnahmen. Im Zweifelsfall kann hierzu fachlicher Rat eingeholt werden. Nachlässiges Anschnallen mit verzwirbelten Gurten und über unförmiger Kleidung kann und sollte jeder selbst vermeiden. 

 

Schließlich die Statistik. Tragequoten (sie werden bei Tag erfasst) sind wichtig. Nur zeigen die Kfz-Unfälle der Versicherer nicht unerhebliche Anteile Nichtanlegen des Gurts www.udv.de/Uko 81/Gurtmuffel. Die Analyse solcher Schäden hilft, Maßnahmen besser auszurichten. Die Aufnahme der Benutzung der Sicherungssysteme in die Unfallstatistik nach Vorbild Österreichs und der Schweiz wäre hilfreich.

 

50 Jahre Sicherheitsgurt in deutschen Autos – eigentlich schon für sich Grund genug zum Gratulieren. Wunschlos glücklich?

 “ Sicherheit im Straßenverkehr ist uns als Unternehmen, aber auch mir persönlich ein echtes Anliegen. Deshalb arbeiten wir daran, die Verkehrssicherheit kontinuierlich zu verbessern. Die allgemeine Akzeptanz des Sicherheitsgurts war ein großer Meilenstein – aber die Gefahren gehen weiter; Ablenkungen am Steuer durch digitale Medien sind nur ein Beispiel. Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass Schäden gar nicht erst passieren!"

 

Dr. Lucie Bakker, Schadenvorständin,
Allianz Versicherungs-AG

 

Unvermindert wird bis heute der Gurt als Lebensretter Nr. 1 anerkannt – und wird es wohl noch eine Weile werden, angesichts einer halben bis zweidrittel Billion Pkw-Kilometer. Auch Automation und Assistenz machen den Verkehr sicherer, doch auch das macht das Anschnallen auf absehbare Zeit nicht obsolet. Ohnehin entfalten ESP, AEB, Gurt & Co. erst in einem Sicherheitsgesamtkonzept ihren größten Nutzen.

 

Jörg Kubitzki